Zampano im Spiegelsaal
von Werner Fembacher
Für mich ist die Emanzipation von Frauen eine Selbstverständlichkeit: Ich wuchs mit zwei Geschwistern bei einer alleinerziehenden Mutter auf. Für mich sind daher emanzipierte Frauen das Standardmodell. Und ich käme nicht auf die Idee zu sagen, ich gehe zum Kardiologen, mein Kardiologe ist nämlich eine hochkompetente Kardiologin. Und selbstverständlich spreche ich meine Kolleginnen und Kollegen an und nicht nur die Kollegen.
Wir kennen Begriffe wie „wortgewaltig“ oder der „Sprache mächtig sein“. In der Sprache steckt offenkundig Macht und damit das Potential zum Missbrauch. Wird dieser Missbrauch durch Gendern vermieden? Beispielsweise dadurch, dass Joe Kaeser, Aufsichtsratsvorsitzender von Siemens Energy, das Wort Mitglieder gendert? Er sprach in der Aufsichtsratssitzung mehrfach von „Mitgliederinnen“, und niemand in seinem Umfeld hat ihm gesagt, dass ein Mitglied grammatikalisch ein Neutrum ist. Gut, er könnte es selbst wissen, wenn nicht, sollte man es ihm sagen. Warum hat es ihm keiner gesagt? Die Antwort ist aus meiner Sicht deprimierend und lautet: weil niemand sich traut. Herr Kaeser hat sein Umfeld von Kritikern bereinigt, er lebt in einem Spiegelsaal. Die "Mitgliederinnen" sind ein vergleichsweise unbedeutender Fehler, gravierend war dagegen beispielsweise, dass er die Rolle der großen Gasturbinen für die Energiewende als Siemens-CEO nicht verstand und lieber der netten Luisa Neubauer einen hohen Posten anbot als einem möglichen Konkurrenten, der etwas von der Sache versteht.
Viele der gegenderten Narrative können inhärenten Machtmissbrauch nur dadurch verbergen, dass Kritik an ihnen in ihrer Reichweite beschränkt oder ganz unterdrückt wird, wie die Twitter-Files eindrucksvoll belegen. Es ist völlig richtig, dass Unternehmen das Primat der Politik anerkennen und beachten. Herrn Kaesers Behauptung, die Russen hätten uns den Gashahn abgedreht, ist ein Narrativ auf wackeligen Beinen. Natürlich kann man dieser Ansicht sein, sie als unstrittig in einer Hauptversammlung darzustellen, ist ein subtiler Machtmissbrauch, weil der Aufsichtsrat zur Neutralität verpflichtet ist und unter dieser Voraussetzung von uns Aktionären gewählt wurde. Ich glaube, wir sollten unsere Sensoren für Machtmissbrauch neu kalibrieren.
Werner Fembacher